Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Kein Lernfortschritt
in der Europapolitik

Das Verhältnis der EU
zu Drittstaaten

Im April 2019, im Vorfeld der Brexit-Verhandlungen, hatten sich EU-Rat, EU-Parlament und EU-Kommission auf Grundsätze für die Verhandlungen verständigt:

  • Die Integrität des europäischen Binnenmarktes hat Priorität.
  • Die vier Binnenmarkt-Freiheiten, freier Verkehr für Personen, Güter, Dienstleistungen und Kapitalien, sind unteilbar.
  • Der Warenaustausch zwischen Drittstaaten und dem Binnenmarkt muss nach europäischem Binnenmarktrecht von europäischen Behörden kontrolliert werden.
  • Zu den Binnenmarkt-Pflichten gehören die Anerkennung der EuGH-Urteile und Kohäsionszahlungen.
  • Kein Drittstaat, der nicht alle Pflichten im Binnenmarkt übernimmt, hat dieselben Binnenmarktrechte wie ein EU-Mitgliedsstaat.
  • Kein cherry-picking und kein 'Have their cake and eat it!' für Drittstaaten.
  • Drittstaaten haben kein Interventionsrecht in Entscheidprozessen der EU-Organe.
  • Verhandlungen mit Drittstaaten über den Binnenmarktzutritt werden nicht sektoriell geführt.
  • Die EU-Kommission verhandelt im Namen der 27 Mitgliedstaaten.
  • Die EU tritt in den Verhandlungen als Einheit auf.

Am 27. Mai 2017 haben auch die Vertreter der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedsländer (COSAC) das Brexit-Mandat mit diesen Grundsätzen einstimmig genehmigt.

Die Schweiz als Drittstaat

Die Direktorin für europäische Angelegenheiten im Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Staatsekretärin Leu, vertritt am 6. Juli 2021 in einer Mitteilung an die Medien die Ansicht, diese Prinzipien seien für das künftige Verhältnis des Drittstaates Schweiz zur EU nicht relevant.

Das EDA verzichtet nach dem Abbruch der Verhandlungen durch die bundesrätliche SVP/FDP-Koalition auf eine Auseinandersetzung mit den Positionen der EU. Die Schweiz habe zahlreiche Konzessionen gemacht. Das müsse genügen.

Bereits vor Abbruch hatte der Bundesrat auf jede öffentliche Diskussion der EU-Drittstaaten-Grundsätze verzichtet. Dass er sich intern damit befasst hat, ist möglich, aber nach seinen Verlautbarungen unwahrscheinlich.

Wer entscheidet in der EU?

Nicht die EU-Organe, sondern die einzelnen EU-Mitgliedstaaten werden über das Verhältnis der EU zur Schweiz entscheiden, meint Staatssekretärin Leu. Jeder Staat werde nach eigenen Interessen handeln, allen voran nach wirtschaftlichen. Trümpfe in der Hand der Schweiz seien die EU-Bürger in der Schweiz und die EU-Grenzgänger.

Diese Ansicht widerspricht der Kompetenzordnung nach EU-Vertrag. Danach verhandelt die EU-Kommission mit der Schweiz im Namen der 27 Mitgliedstaaten. Der Entscheid liegt bei den drei EU-Organen EU-Rat, EU-Parlament und EU-Kommission, die zusammenwirken müssen.

Der EuGH kann Entscheide der EU-Organe über Verträge, die dem EU-Recht widersprechen, aufheben.

Gesprächspartnerin von Staatssekretärin Leu im Vorfeld des bundesrätlichen Abbruchentscheids war Frau Riso, Stellvertretende Kabinettchefin der Präsidentin der EU-Kommission.

Sie führt die Verhandlungen für die EU. Mit den Mitgliedstaaten hat Frau Leu nie verhandelt.

Die Medienmitteilung von Staatssekretärin Leu, nicht die EU-Organe, sondern die einzelnen EU-Mitgliedstaaten würden über das Verhältnis der EU zur Schweiz entscheiden, ist für ihre künftigen Besprechungen mit der Vertreterin der EU kaum zielführend. Frau Riso war 2017 bis 2019 Director for Strategy, Coordination and Communication der EU-Kommission in den Brexit-Verhandlungen.

Nach dem Verhandlungsabbruch ist alles anders!?

Der rechtsnationale EU-Gegner und Kampagnenführer des Brexit, Nigel Farage, meinte: «After Brexit, the EU will no longer exist.»

Heisst das für das EDA: nach dem bundesrätlichen Abbruch der Verhandlungen existieren die EU und das Verhandlungsmandat der EU-Kommission nicht mehr?

Meint Staatssekretärin Leu, die Wirtschaftsverbände der Nachbarstaaten werden sich jetzt bei ihren Regierungen für die von der Schweiz geforderten Binnenmarkt-Privilegien stark machen?

Zum Brexit hatte die deutsche Wirtschaft 2019 klar gemacht, dass die Integrität des europäischen Binnenmarkts erste Priorität hat und britisches cherry-picking nicht in Frage kommt. Allfällige wirtschaftliche Nachteile der deutschen Unternehmen bei einem No Deal seien hinzunehmen. Glaubt unsere Regierung das gelte nicht im Verhältnis zur Schweiz?

Die britische Premierministerin May hatte in den Brexit-Verhandlungen versucht, Amtskollegen der Mitgliedsländer unter Hinweis auf wirtschaftliche Interessen direkt anzusprechen und für britische Positionen zu gewinnen.

Im August 2018 war sie u.a. zu diesem Zweck beim französischen Präsidenten Macron.

Nicht ein europäischer Regierungschef ist auf ihre Avancen eingetreten.

Die SVP/FDP-Bundesräte rechnen für sich bessere Chancen aus und werden von Staatssekretärin Leu mit ihren Aussagen darin bestärkt. Die Schweizer Botschafter werden wohl Aufträge aus dem EDA erhalten, die gemeinsame EU-Position der Mitgliedsländer gegenüber dem Drittstaat Schweiz aufzubrechen. Was soll man davon halten?

Ist der Bundesrat der Ansicht, sein Verhandlungsabbruch bewirke eine Kehrtwende der bisherigen EU-Politik generell gegenüber Drittstaaten und speziell gegenüber der Schweiz? Meint er tatsächlich für die Schweiz sei die EU-Drittstaaten-Position wegen der EU-Grenzgänger und der EU-Bürger obsolet?

Wie weiter?

Staatssekretärin Leu meint, die EU müsse jetzt überlegen: Was wollen wir mit der Schweiz? Die EU-Kommission werde im Herbst vorschlagen, wie sie in der Beziehung zur Schweiz weiterfahren will.

Der Bundesrat hat die Verhandlungen abgebrochen. Jetzt soll die EU-Kommission im Herbst 21 für die negativen Konsequenzen Lösungen finden. Eine seltsame Idee aus der Bundesverwaltung.

Demgegenüber meinte FDP-Bundesrätin Keller-Sutter zuvor, der Bundesrat habe einen Plan B.

Er bestehe in der laufenden unilateralen Anpassung des Schweizer Rechts an das EU-Recht. Unter dem Gesichtspunkt der Souveränität ein bedenklicher Plan.

Wenn die EU-Kommission dem Schweizer Recht nicht laufend Äquivalenz bescheinigt, nützt der Plan B nichts. Das EDA weiss, dass die EU-Kommission Äquivalenz ohne Rahmenabkommen nur bei gewichtigsten Eigeninteressen zuerkennen wird.

Staatssekretärin Leu meint, erneut mit der EU zu verhandeln, bringe nichts. Es müssten nun für die Schweiz gute Voraussetzungen geschaffen werden. Was damit gemeint ist, bleibt offen.

Kein Wort über den Plan B von Bundesrätin Keller-Sutter.

Kein Wort über die Beteiligung der Schweiz an Horizont Europa 2021, das EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation 2021-2027. Horizont Europa will die Zusammenarbeit, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit im Europäischen Forschungsraum stärken. Das Budget 2021 – 2027 beträgt 95 Mia. €.

Faktisch verspricht das EDA der Schweiz den Binnenmarkt-Zutritt auch ohne Zustimmung der Inhaber des Binnenmarktes. Eigenartige Vorstellungen.

Schweizer Position nach Verhandlungsabbruch

Nach den Medienmitteilungen vom 6. Juli 2021 von Staatssekretärin Leu kann man schliessen:

  • Das EDA meint die einzelnen EU-Staaten, nicht die EU-Organe, seien für die Beteiligung der Schweiz am Binnenmarkt zuständig.
  • Das EDA will sich wieder im EU-Wartzimmer für Drittstaaten hinsetzen und abwarten.
  • Das EDA will die Verhandlungseinheit der 27 EU-Staaten aufbrechen.
  • Das EDA beurteilt die Erosion der bestehenden Verträge als Peanuts.
  • Das EDA betrachtet die EU-Drittstaaten-Position als irrelevant für die Schweiz.
  • Alte Kohäsionsschulden sollen nur beglichen werden, wenn der Schweiz ein Recht auf Diskriminierung von EU-Handwerksbetrieben und EU-Bürgern in der Schweiz zuerkannt wird.
  • Das Schweizer Konzept des sektoriellen cherry-picking (Bilateralismus) gilt unverändert.
  • Ein Plan B des Bundesrates existiert nicht.
  • Das europäische Forschungsprogramm Horizon hat für die Schweiz geringe Relevanz.

Position der EU

Letztmals hatte sich der EU-Rat im Februar 2019 zum Verhältnis der EU zur Schweiz geäussert.

Den Abschluss des ausgehandelten Institutionellen Abkommens bezeichnete der EU-Rat als Vorbedingung für künftige Abkommen zur Schweizer Beteiligung am Europäischen Binnenmarkt und für Äquivalenz-Entscheide über den gegenseitigen Marktzutritt.

Der EU-Rat bestätigte die Unteilbarkeit der vier Freiheiten. Die Personenfreizügigkeit sei ein fundamentaler Pfeiler des EU-Binnenmarkts. Die einschränkenden Schweizer Regeln betreffend grenzüberschreitende Tätigkeiten von Handwerksbetrieben aus den Nachbarländern und die Diskriminierung von EU-Bürgern in der Schweiz seien damit inkompatibel.

Der EU-Rat erinnert den Bundesrat an das Memorandum of Understanding von 2006, in welchem sich dieser mit Kohäsionszahlungen einverstanden erklärt hatte. Die Begleichung der seit bald 10 Jahren ausstehenden zweiten Kohäsionszahlung sei ein integraler Bestandteil aller Beziehungen der EU zur Schweiz.

Fazit

Die Medienmitteilung der EDA-Direktorin für europäische Angelegenheiten deutet darauf hin, dass kein Lernprozess hin zu den Realitäten stattfindet, sondern Illusionen und rechtsnationale Ideologien sorgsam weiter gepflegt werden.

Die NZZ meinte am 7. Juli 2021, in Bern gebe es Zweifel, ob die Direktorin der schwierigen Aufgabe gewachsen sei.

Die Europäer werden ihren unter grossen Anstrengungen errungenen europäischen Binnenmarkt nicht dem «Sonderfall Schweiz» opfern. Sie werden den Schweizer Rechtsnationalen auch keine Geschenke machen.

Weshalb sollten sie – nüchtern betrachtet – im Gefolge des Abbruchentscheids der SVP/FDP-Bundesräte Diskriminierungen von EU-Unternehmen und EU-Bürgern akzeptieren und der Schweiz im Gegenzug uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt gewähren?

Der anti-europäische Reflex beherrscht die Politik des Bundesrats. So will er nach neuesten Beschlüssen die Verwaltungsdaten der Schweizer in der Alibaba-Cloud in China deponieren statt in Europa und amerikanische statt europäischer Kampfflugzeuge kaufen, obwohl die Schweiz völlig von der europäischen Sicherheitspolitik abhängt.

Wer meint, mit solchen Aktionen entstehe in Europa Goodwill für die Schweiz, der irrt.

Die aktuelle SVP/FDP-Regierungsmehrheit bleibt in ihrem rechtsnationalen anti-europäischen Weltbild gefangen und ist überzeugt, die Schweiz brauche keinen Goodwill in Europa.

Die SVP/FDP-Regierungsmitglieder wollen und können nicht verstehen, dass die Europäische Union eine multilaterale Wirtschaftsgemeinschaft und eine Wertegemeinschaft ist: für Rechtstaatlichkeit, Grundrechte, Gewaltentrennung, freie Wahlen und Meinungsfreiheit.

Sie treffen sich bevorzugt mit Abgesandten des diktatorisch regierten China, wo diese Werte nicht existieren.

Die Schweizer Aussenpolitik täte gut daran, einen substanziellen Beitrag an die europäische Wertegemeinschaft zu leisten, statt Verhandlungen mit Europa für zwecklos zu erklären.

08.07.2021

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